Rezension “Trial and Error: U.S. Newspapers’ Digital Struggles toward Inferiority”
(27.10.2015)
Kämpfen Verlage bei der Entwicklung digitaler Angebote nur um die rote Laterne? Ist der digitale Tsunami ein Sturm im Wasserglas? Und sind die wahren Ursachen für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Presseverlagen falsche Weichenstellungen der Manager, die einer selbsterfüllenden Prophezeiung (‘Print stirbt’) aufsitzen, weil nämlich die Zukunft der Pressemedien keineswegs in digitalen Formaten liegt?
Die Journalismus-Professorin und Expertin für Medienwirtschaft, H. Iris Chyi, stellt in ihrem Buch “Trial and Error: U.S. Newspapers’ Digital Struggles toward Inferiority” jedenfalls die These auf, dass die meisten US-Zeitungen “ihre Hausaufgaben an Unternehmensberater outgesourct haben, unter denen Clayton M. Christensen der einflussreichste ist.” Dessen These von der Disruption stecke als theoretische Grundlage hinter dem Technologie-fokussierten Vorgehen der Branche. Das Problem sei dabei, dass die meisten Annahmen einer digitalen Zukunft keinerlei empirische Unterstützung hätten.
Das habe zu 20 Jahren schlechter Entscheidungen, unkluger Strategien, missverstandener Zielgruppen und verschlechterter Produktqualität geführt. Statt sich mit Empirie (Erfahrungswerten) zu beschäftigen, hätten die Zeitungsmanager das Denken an Digital-Berater und deren rein theoretisches Modell delegiert. Die Manager der Verlagsindustrie unterlägen in ihren verzweifelten Versuchen, bloß nicht antiquiert zu wirken, einem ‘Gruppendenken’, das sie davon abhalte, bessere Entscheidungen zu treffen. “Die Manager glaubten tatsächlich dass ihre Industrie im Sterben läge, weil das Internet ihr Dinosaurier-Geschäft disruptiere. In der Art hat man es ihnen erzählt.”
Das Buch versucht sich an einer schlüssigen Argumentationsfolge:
- zunächst zeichnet Chyi das Bild einer historisch permanent wachsenden Informations-Überfülle, die durch das Internet und besonders auch die Aktivitäten der Presseverlage darin, noch einmal verstärkt wird.
- Das habe zum Entstehen von “News-Aggregatoren” wie Google News oder Yahoo News geführt, die den Zeitungen Märkte wegnehmen, ohne selber Inhalte zu produzieren.
- Dabei seien aber die Auflagenrückgänge der Zeitungen keinesfalls durch den Wunsch der Konsumenten nach mehr digitalen Angeboten verursacht. Die Auflagenkrise habe lange schon vor dem Aufkommmen des Internets begonnen (Rückgänge von “konstant 1-2% jährlich seit 1950”).
- Die Zeitungen hätten den Auflagenrückgang allerdings forciert, weil sie der Ideologie der Disruption anhingen und ihr Produktportfolio mit Angeboten niedriger Qualität und auf Kosten ihrer traditionellen Produktformate erweiterten. Statt sich mit einzigartigen Inhalten vom Wettbewerb abzugrenzen, hätten Zeitungen einen technologiefokussierten Kurs eingeschlagen. Den Papierprodukten gegenüber dominiere “das ‘Zeitungen sterben’-Narrativ”.
- Die neuen, digitalen Produkte seien aber grundsätzlich “minderwertige Produkte”. Hier bezieht sich die Autorin auf ein wirtschaftswissenschaftliches Konzept und vergleicht digitale Zeitungen in Funktion, Wertanmutung und Preisbereitschaft mit “Ramen Nudeln”, die in der westliche Kultur vor allem als zu unappetitlichen Blöcken zusammengepresste Instant-Gerichte bekannt sind. In diesem Sinne seien digitale Nachrichten Fast Food und “so werden sie auch wahrgenommen, verglichen mit einem ausgeglichenen Menü im Restaurant”.
- Solche minderwertigen Produkte ließen sich weder in Form von Paid Content noch als wertschöpfende Werbeträger gewinnbringend vermarkten. Was nicht heiße, dass sie nicht auch eine Berechtigung hätten. “Denken Sie daran, wie die Leute Ramen Nudeln oder Fast Food konsumieren – sie nutzen minderwertige Güter, wenn sie das müssen, wenn normale Güter nicht zur Verfügung stehen oder zu teuer sind. Und viele minderwertige Güter sind auch profitabel”. Sie seien aber eben kein Beleg für die grundsätzlichen Präferenzen der Konsumenten.
Wer auf digitale Projekte setzt und sich richtig in den Wind stellen möchte, der ist bei diesem Buch gut aufgehoben. Es ist teilweise eine Freude, wie konsequent H. Iris Chyi zahlreiche Argumentationsfiguren rund um die Digitalisierung von Pressengeboten auseinanderpflückt, darunter auch das allgegenwärtige Mantra von der Disruption. Einige Beispiele:
- “Es waren die Managemententscheidungen der Zeitungsunternehmen, die zur Dominanz von News-Aggregatoren geführt haben, die wiederum den Prozess beförderten, der Nachrichten zum einem geringwertigen Gut machte”. Und kurioserweise würden sich viele Verlage stärker an Google News abarbeiten, was doch immerhin für viel Traffic auf den Verlagswebsites sorge und gleichzeitig Angebote wie Yahoo News [pvd: aktuell wären hier sicherlich vor allem Facebooks Instant Articles und Apple News zu nennen] unterstützen und mit vollständigen Inhalten ausstatten.
- Zeitungen hätten keineswegs zu langsam oder zu spät auf das Internet reagiert. “Es ist schwer eine Technologie zu finden, die Nachrichten-Unternehmen nicht umarmen” wird ein anderer Forscher zitiert. Ganz im Gegenteil seien bereits in der Frühphase eine Vielzahl digitaler Experimente gestartet worden, die aber samt und sonders nicht erfolgreich waren. “Die Geschichte [der gescheiterten ‘Neuen Medien’] hätte hier enden können”, schreibt Chyi und lässt mehrfach ein ‘bedauerlicherweise tat sie es nicht’ anklingen.
- Das Konzept der Disruption dagegen, das vielen Entscheidungen zugrunde liegt, sei wenig wissenschaftlich, kaum durch Belege unterfüttert und vor allem eine Inszenierung gegenüber der Medienbranche. “Der Start … [der Newspaper Next Kampagne] wurde wie ein Hollywood Blockbuster inszeniert. Genau wie in solchen Filmen ein Wissenschaftler, häufiger mit als ohne Laborkittel, die Öffentlichkeit vor einer Katastrophe warnt, die die Menschheit auszulöschen droht, spielte Christensen [der Erfinder des Disruptions-Modells] eine ähnliche Rolle gegenüber den Zeitungs-Managern”. Damit habe sich Christensen Millionen-Beraterbudgets gesichert aber keinerlei erfolgreiche Projekte initiiert.
- Der Begriff ‘Digital Natives’ sei “tatsächlich ein Mythos (…) unterschiedliche Zeitungsnutzung in verschiedenen Altersgruppen gab es schon lange, bevor das Internet zu einem Massenmedium wurde”. Aber selbst die Generation der digital Natives zeichne sich weder durch eine besonders ausgeprägte Nutzung mobiler Geräte für den Nachrichtenkonsum aus, wenn man Befragungsdaten und empirische Untersuchungen auswertet. Noch präferierten die digital Natives digitale Angebote gegenüber dem Papier. Auch in dieser Altersgruppe würden gedruckte Zeitungsangebote gegenüber digitalen Angeboten bevorzugt.
- Seit 2010 stagniere das Wachstum bei der Nutzung von Nachrichtenangeboten im Web. Der aktuelle Hype rund um mobile Angebote sei hier nicht mehr als der Versuch, die irreführende Geschichte vom Siegeszug des Digitalen weiter fortzuschreiben.
Am Ende ihres Buches kommt die Autorin zu einigen Empfehlungen und Schlussfolgerungen, zum Beispiel:
- “Erkennen Sie, dass der ‘first-mover’-Vorteil im Geschäft mit Online-Nachrichten nur selten lange anhält. Wer erinnert sich noch daran, welche Zeitung als erste online ging? Und ohnehin, wen schert das noch?”
- “Denken Sie daran, dass gedruckte Zeitungen nicht sterben müssen”. Geringe, kontinuierliche Auflagenrückgänge seien zu verkraften. “Aber das Totholz-Format ist das, was die meisten Zeitungsleser nutzen, bevorzugen und wofür sie bereit sind, 300$ – 500$ pro Jahr zu bezahlen”. Selbst zu Hochzeiten der Werbekrise hätten die meisten Zeitungen noch Renditen im Bereich der Durchschnittsrendite der großen Firmen des amerikanischen Börsenindex ‘S&P 500’ abgeworfen.
- “Sehen Sie ein, dass nicht viele Leute für Ihre digitalen Produkte bezahlen werden. Selbst unter denjenigen, die ihre Inhalte interessieren, gibt es viele, die digitale Formate als minderwertig betrachten. Trotzdem ist eine Paywall zu haben, nicht notwendigerweise eine schlechte Sache . sie könnte die Print-Auflage schützen. Aber dieser positive Effekt wird nie dramatisch sein, weil die Online-Ausgabe ohnehin nie stark genug war, um das Printprodukt zu kannibalisieren”.
- “Das heißt nicht, dass Sie darauf verzichten sollen, digitale Produkte anzubieten, aber das ist etwas ganz anderes als ‘digital first, print last’
- “Print ist, wo Sie ihre Wettbewerbsvorteile haben. Google hat keine Ahnung davon, wie man eine Zeitung managt, genauso wenig wie Sie wissen, wie man online Geld verdienen kann.”
So erfrischend es ist, ein Buch zu lesen, das sich konsequent, gut begründet und auch pointiert formuliert gegen die verbreitete Branchenmeinung stellt: die zwei ganz großen argumentativen Linien in diesem Buch überzeugen nicht.
Es ist, erstens, nicht möglich, ein Bild der Zukunft ausschließlich anhand der Empirie zu zeichnen. Denn Empirie versagt systematisch, wenn sich Umbrüche ereignen. “Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt”, hat in den vierziger Jahren der IBM-Chef Thomas Watson aus seinen Erfahrungen abgeleitet.
Und Chyi übergeht auch etwas leger die Tatsache, dass ein großer Teil der gravierenden wirtschaftlichen Herausforderungen für Zeitungen ganz sicher mit dem Disruptions-Modell beschrieben werden kann: der Wegfall der Rubrikenmärkte und deren Ersetzung durch Job-, Auto- und Immobilienportale.
Und zweitens baut Chyi eine Schimäre auf, wenn sie das Bild einer kollektiv der Digital-Hysterie verfallenen Managementkultur zeichnet. Ohne jeden Zweifel bestimmen begriffliche Moden und angesagte Theorien wie Christensens Disruptionsmodell das Handeln und Denken einer Vielzahl von Verlegern und Verlagsgeschäftsführern. Aber doch nicht ausnahmslos, nicht ohne kritische Rückfragen und auch nicht blind.
Wäre die (Presse)Welt besser dran, wenn sie keine digitalen Angebote gestartet hätte? “Was wäre, wenn wir es nicht getan hätten?” zitiert Chyi einen Verleger und für dieses gedankliche Szenario lässt sie auch Sympathie erkennen.
Nein, ‘es’ nicht zu tun, das war selbstverständlich keine Option. Auch wenn bis heute nur wenige tragfähige digitale Nachrichtenunternehmungen zu sehen sind. Die ersten Dampfer und Automobile waren den Segelschiffen und Pferdekutschen unterlegen. Aber die Menschen spüren (damals wie heute) die Chancen einer neuen Technologie. Und sie waren zu jeder Zeit (und glücklicherweise) bereit, Rückschläge in Kauf zu nehmen, um die jeweilige Entwicklung so weit voran zu treiben, dass sie tatsächlich einen Vorteil brachte.
Mit dem Argument der empirischen Erfahrungen hätte sich noch jede wirkliche Innovation totschlagen lassen, lange bevor sie zu einem Erfolg werden konnte.
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