Wer nicht fragt bleibt dumm

Der mittlerweile emeritierte Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger erzählte seinen Studenten gerne von einer älteren soziologischen Studie. Die ging der Frage nach, was Zeitungsleser in den USA an Tagen tun, an denen sie keine Zeitung erhalten (So etwas passierte in den 50er Jahren flächendeckend noch nicht aufgrund von Zustellproblemen, sondern weil ein Stromausfall den Zeitungsdruck verhindert hatte).

Die Zeitungleser schalteten in dieser Situation nicht etwa das Radio an, um sich damit aktuell zu informieren. Sondern sie lasen erneut in der Zeitung des Vortages. Ihr Leseverhalten war also weniger von ihrem Bedarf an aktueller Information bestimmt als von der Gewohnheit.

Gewohnheit – ‘Habitualisierung’ – ist wahrscheinlich der stärkste Kundenbindungsfaktor überhaupt. Wer sein Zeitungsabo kündigt, der muss die vorher damit verbrachte Zeit anders verbringen. Aber womit? Wüsste man das, dann fände man eventuell auch Hebel, mit denen eine Kündigung zu vermeiden wäre.

Netflix-Kündiger wechseln zu Disney+ oder Amazon Prime. Wer sein Spotify-Abo aufgibt, der legt nicht wieder CDs oder gar Schallplatten auf. Der wechselt zu Apple Music, Deezer (oder zur werbefinanzierten Gratisvariante von Spotify).

Aber wohin wechseln FAZ-Kündiger? Zur Süddeutschen? Was macht ein ehemaliger Abonnent der Siegener Zeitung heute? Die Westdeutsche Zeitung lesen? Wir wetten, dass das nicht so ist. Wir sind uns sicher, dass er etwas anderes tut als Zeitung lesen. Aber was?

Wüsste man das, dann könnte man eventuell Kündigungen vermeiden, indem man das Produkt Zeitung entsprechend umgestaltet. Vielleicht verbringt der ehemalige Abonnent die nun freie Zeit lieber mit stimmungsaufhellenden Medieninhalten. Dann könnte man der Redaktion den Auftrag geben, dieses Bedürfnis besser zu berücksichtigen. Vielleicht will der Ex-Abonnent schlicht weniger Inhalte haben, weil ihm eine ganze Zeitung zu viel ist. Wenn er lieber einen Newsfeed mit den fünf wichtigsten Nachrichten des Tages haben möchte, dann könnte ihm das jede Zeitung mindestens so gut anbieten wie die vielen digitalen Nachrichten-Aggregatoren. Eventuell ließen sich noch zwei bis drei vertiefende Berichte hinzufügen, die ein Bezahlangebot rechtfertigen.

Methodisch wäre eine Studie zur Frage ‘Womit ersetzen ehemalige Abonnenten die Zeitungslektüre?’ in sehr hoher Qualität durchführbar. Schließlich ist die Grundgesamtheit aller Kündiger nicht nur bekannt, sondern auch erreichbar, weil alle Adressen und oft auch Telefonnummern vorliegen.

Es müssten sich nur alle Verlage zusammentun und einen Forschungsauftrag erteilen. Ja, es gibt keine Sicherheit, dass damit ein wirksamer Hebel zur Kündigungsvermeidung entdeckt werden kann. Aber sicher ist: wer nicht fragt, der bleibt dumm.

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