Wie viele Menschen bezahlen für digitalen Journalismus?

(11.7.2017)

Die Paid Content-Daten des Digital News Reports des Reuters Institute for the Study of Journalism führen in die Irre.

Management Summary:

Die Argumentation dieses (versprochen: grafikreichen, erst am Ende etwas textlastigen) Beitrags lautet im Prinzip wie folgt:

Wer eine optimistische Einstellung zu Paid Content (vom Leser bezahlter Journalismus) hat oder sogar positive eigene Erfahrungen damit, der dürfte sich die Entwicklung geeigneter Kennzahlen zu diesem Thema in den letzten 5 Jahren ungefähr so vorstellen:Wer Paid Content skeptisch sieht oder enttäuschende Erfahrungen damit gemacht hat, der würde eher eine solche Entwicklung erwarten:

Und wer sich gar nicht vorstellen kann, dass irgendjemand für digitalen Journalismus Geld bezahlt, der hat diese Entwicklung im Kopf:

Das Reuters Institute for the Study of Journalism hat in den letzten Jahren ungefähr folgende Entwicklung gesehen:

Ein uneinheitlicher Trend, der noch dazu nach unten weist, ist völlig unplausibel und passt weder zu den Erwartungen noch zu den Erfahrungen der Optimisten, der Pessimisten und – vor allem – zu belastbaren Geschäftsdaten.

Die Fakten (für Deutschland):

Laut IVW hat sich in den letzten fünf Jahren die Anzahl verkaufter E-Paper bei den deutschen Zeitungen vervierfacht und bei den deutschen Publikumszeitschriften beinahe verdoppelt.

Im gleichen Zeitraum ist die Anzahl Tageszeitungen, die ihr Webangebot mit einer Paywall versehen haben, um knapp drei Viertel gestiegen.

Die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers schätzt in ihrem Global entertainment & media outlook 2017-2021 den Umsatz mit dem Verkauf digitaler journalistischer Produkte in diesem Zeitraum in Deutschland so ein:

Würde man vor dem Hintergrund dieser Daten eine Vermutung darüber anstellen, wie sich im gleichen Zeitraum die Anzahl der Menschen entwickelt hat, die für digitale journalistische Angebote wie Online-Nachrichten bezahlen, dann würde man in etwa so etwas erwarten:

Es wäre schwierig, eine Erwartung zu der tatsächlichen Größenordnung dieser Zahlen zu formulieren. Die Y-Achse dieser Grafik ist unbekannt. Auch die Steigung, also die Verteilung dieser wachsenden Entwicklung entlang der Zeitachse, ist relativ offen.

Aber alles andere als eine wachsende Entwicklung ist angesichts des vorab geschilderten Umfelds kaum vorstellbar. Und von Wachstum – wenngleich oft auf niedrigem Niveau – berichten viele Verlage und rein digital erscheinende Nachrichtenangebote. Meldungen, dass digitale journalistische Angebote in diesem Zeitraum Kunden oder Absatz oder Umsatz verlieren, sind dagegen sehr selten.

Das Reuters Institute for the Study of Journalism hat für Deutschland in diesem Zeitraum folgende Werte ermittelt:

Danach würden (mit Ausnahme des Jahres 2016) in Deutschland immer weniger Menschen für Online-News bezahlen. (Die Forscher selber möchten in dieser Grafik v.a. Stagnation erkennen; mehr dazu unten. Auch zum hellgrauen Teil des Balkens für das Jahr 2013 – hier wurde eine leicht andere Fragestellung verwendet.)

Ein Blick auf die Reuters-Daten für andere Länder:

Die oben für Deutschland geschilderten Wachstumstrends bei E-Papern, Paywalls und Paid Content-Umsätzen finden sich in ähnlicher Form in allen westlichen Nationen. Trotzdem berichtet das Reuters Institute in seinen jährlichen Digital News Reports von äußerst sprunghaften Entwicklungen in einzelnen Ländern, die bestenfalls gar keinen Trend, mehrheitlich sogar schrumpfende Mengen für Online-Nachrichten bezahlender Personen beschreiben.

Selbst wenn man den im Jahr 2013 genannten Wert ausschließt, der damals auf einer etwas anderen Fragestellung beruhte (haben sie ‘jemals’ für Online-Nachrichten bezahlt statt “im letzten Jahr”), dann verbleiben in vielen Ländern laut Reuters-Analyse immer noch eher geringer werdende als ansteigendeTrends – vor allem aber eine sprunghafte und nicht regelmäßig wachsende Entwicklung.

Wie kann das sein?

Das ist die Gretchenfrage. Laut Angaben der Forscher sind ihre Daten repräsentativ für die jeweiligen Länder. Vertraut man darauf, dann ist es nicht so, dass diese Zahlen einfach falsch sind. Falsch ist nur der Eindruck den sie vermitteln.

Gemessen wurde der Anteil der befragten Personen, die auf eine bestimmte Frage (“Haben Sie im letzten Jahr für Online Nachrichteninhalte bezahlt”? mit “Ja” geantwortet haben. Wir wissen nicht, was diese Menschen sich unter “Online-Nachrichteninhalten” vorgestellt haben. Wir wissen nicht, was sie glaubten, welche Antwort in diesem Zusammenhang möglicherweise wünschenswert gewesen wäre. Wir wissen nicht, welche Assoziationen, Einstellungen oder Erinnerungen durch den Zeitpunkt oder die Art der Befragung in den Vordergrund gerückt wurden. Und wir wissen erst recht nichts über das Erinnerungsvermögen dieser Menschen.

Wir wissen nur eins: im Zusammenhang mit der Frage, die Medienmanager weltweit an vorderer Stelle bewegt, nämlich wie es um die Bereitschaft steht, für digitalen Journalismus zu bezahlen, sind diese Daten außergewöhnlich irreführend. Sie passen nicht zu allen anderen Indikatoren.

Warum das ein Problem ist

Das ist ein Problem weil diese Studie sich quasi zum Goldstandard in allen Fragen des Digitalnachrichtengeschäfts entwickelt hat. Wo immer Sie oder jemand anders irgendwo auf dem Globus über Zahlen zu Paid Content stolpert, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese Werte aus dem Reuters Digital News Report stammen. So hat zum Beipiel Statista die neuesten Daten sofort in sein Angebot übernommen.

Und weil die Reuters-Zahlen überwiegend im einstelligen Prozentbereich liegen und weil die Werte nicht wachsen, trägt diese Studie vermutlich erheblich zu der weitverbreiteten Wahrnehmung bei, dass Paid Content nicht funktioniert.

Was sagen die Reuters-Forscher selber?

Auf unsere Fragen stellen sowohl Dr. Richard Fletcher vom Reuters Institute for the Study of Journalism als auch Dr. Sascha Hölig vom deutschen Kooperationspartner Hans-Bredow-Institut für Medienforschung heraus, dass sie in ihren Daten gar keinen abnehmenden Trend sehen sondern eine stagnierende Entwicklung. “Weil wir es mit einem kleinen Anteil an der Bevölkerung zu tun haben (diejenigen, die für Online-News bezahlen) und weil die Fehlermarge in der Befragung bei ungefähr +/- 2,5% liegt, ist es nur möglich, relativ große Veränderungen in der Anzahl der Menschen, die bezahlen, zu entdecken.” Die in den Grafiken erkennbaren Trends wären demnach nur Zufallschwankungen ohne Bedeutung.

“Befragungen sind nicht ideal um so etwas wie das Bezahlen akkurat zu messen”, meint Richard Fletcher. “Alles zusammengenommen” sagt er: “Ich glaube, dass das Bezahlen für Online-News in den meisten Märkten von Jahr zu Jahr wahrscheinlich inkrementell wächst; aber langsam (und zu langsam um es jedes Jahr in unseren Umfragen zu entdecken)”.

Sowohl Richard Fletcher als auch Dr. Sascha Hölig vom deutschen Hans-Bredow-Institut für Medienforschung stellen in ihren Antworten heraus, dass steigende E-Paper-Zahlen und mehr Paywalls und mehr Umsätze nicht zwangsläufig auf mehr bezahlenden Personen beruhen. Sascha Hölig: “Es würde ja schon reichen, wenn ein und derselbe Nutzer, der einmal die Schwelle der Bezahlung für digitale Inhalte überschritten hat, im Laufe der Jahre auch zu weiteren journalistischen Produkten hinter Paywalls greift. Ein Anstieg des Umsatzes bedeutet nicht automatisch, dass dieser auch durch mehr Nutzer generiert wird.” (…) (Es kann durch aus sein), “dass die Umsätze steigen, mehr E-Paper verkauft werden und mehr Angebote Paywalls verwenden und gleichzeitig der Anteil der Nutzer, der sagt, dass er für Nachrichten im Internet Geld ausgibt, sich derzeit relativ konstant zeigt. Die Einführung einer Paywall führt nicht kausal dazu, dass die statistisch messbaren Anteile der zahlenden Onliner sofort ansteigen.”

Das stimmt im Prinzip. Aber es ist nicht überzeugend. Wenn immer mehr Zeitungen eine Paywall errichten, dann werden immer mehr Menschen zum ersten Mal mit einer Paywall konfrontiert. Die meisten Zeitungen sprechen lokal überschneidungsfreie Zielgruppen an und es wird kaum jemanden geben, der für zwei Lokalzeitungsangebote bezahlt.

E-Paper werden zu 99% per Abo verkauft. Eine steigende E-Paper-Auflage kommt nur durch eine höhere Anzahl Abos zustande. Sicher gibt es Menschen, die mehr als ein Abo haben. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass hinter einem neuen E-Paper-Abo jemand steckt, der vorher noch kein E-Paper-Abo hatte, ist hoch.

Wir bleiben dabei: Alles deutet daraufhin, dass neben E-Paper-Auflagen, bezahlpflichtigen Websites und Paid Content-Umsätzen auch die Anzahl der Menschen, die das nutzen, deutlich steigt. Wenn die Zahlen des Digital News Reports hier etwas anderes sagen, dann muss bezweifelt werden, dass das verwendete Messinstrument des Digital News Reports funktioniert.

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