Die fatale fraktale Geometrie hyperaktueller Fachinformationen

Netflix ist doch nicht dem Untergang geweiht. Jedenfalls nicht unmittelbar. Ein halbes Jahr gewann man den gegenteiligen Eindruck, wenn man nicht Augen und Ohren vor den voreiligen Schlussfolgerungen einschlägiger Dienste verschloss, die aufgeregt und mit teils unfassbarer Kurzsichtigkeit das Ende der Netflix-Story ausgemacht hatten, weil der Videostreamer für das erste Quartal 2022 zum ersten Mal über einen rückläufigen Abonnentenbestand berichtet hatte.

Daraus leiteten viele Berichterstatter ein grundsätzliches Problem, eine nachhaltige Trendwende, das Ende des langfristigen Wachstums von Netflix und, gleich doppelt kurz gesprungen, einige sogar das baldige Ende des Unternehmens selbst ab.

‘Peak Subscription Economy’ lautete das voreilige Schlagwort in der englischsprachigen und der neudeutschen Branchenbescheidwisserszene. Der Wendepunkt nicht nur für Netflix, nicht nur für Videostreaming sondern gleich für alle Abonnementanbieter wurde x-fach ausgerufen.

Und dann meldete Netflix im Quartal danach erneut rückläufige Abonnentenzahlen. Eine phantastische Gelegenheit, die vorschnellen und übergeneralisierenden Analysen von drei Monate vorher nochmals aufzufrischen und zu schärfen.

Für das dritte Quartal meldete Netflix nun wieder Abonnentenwachstum. Sogar mehr Wachstum, als es versprochen hatte. Und auch bei den anderen Unternehmenskennzahlen viel bessere Werte als gedacht.

Die vielen Schwarzmalereien sind damit erst einmal Makulatur. Die viele Zeit, die schlaue Köpfe darauf verwendet haben, aus einem 3-Monats-Ereignis eine Zeitenwende abzuleiten, war verschwendet. Die Zeit, die Leser auf die Lektüre dieser Analysen verwendet haben, ebenfalls.

Die Kurzatmigkeit der Quartalsberichterstattung von Börsenunternehmen wird regelmäßig kritisiert, weil sie nicht unbedingt einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung dient. Die Kurzatmigkeit der Medienberichterstattung ist bisher kein Thema.

Dabei ist es so: Trends und nachhaltige Entwicklungen kann man nicht nach 3 oder 6 Monaten identifizieren. Der Blick aus der zeitlichen Nähe auf partikulare Ergebnisse ist nicht Ausweis von Agilität, sondern er macht blind.

Das ist wie mit der Vermessung von Küstenlinien. Je detailreicher man dorthin schaut, desto länger und damit auch verwirrender werden sie. Norwegens Küstenlänge variiert um den Faktor fünf, wenn man sie statt im Maßstab 1:30Mio im Maßstab 1:50.000 vermisst.

Das lässt sich mit der sogenannten fraktalen Geometrie erklären. Die fraktale Geometrie überaktueller Fachinformationen dagegen erklärt gar nichts.

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