#1/2014: Der Fall Dummy – wie funktioniert die Selbstkontrolle im Presse-Vertrieb?
Vertriebsbeschränkungen
Jede Publikation hat Anspruch auf Vertrieb über das Grosso
Grosso-Verband: jugendgefährdende Titel nur beschränkt in den Handel
Kernelement des Deutschen Pressevertriebssystems ist dessen Neutralität. Jede Publikation hat Anspruch auf den Verkauf über die Grossisten, solange sie nicht gegen geltendes Recht verstößt. Wer aber prüft wie, ob ein entsprechender Verstoß vorliegt? Der Bundesverband Presse-Grosso informiert auf seiner Website, dass “Titel, die nach Prüfung des Grossisten in Zusammenarbeit mit dem branchenweiten Prüfpool als jugendgefährdend einzustufen sind” nur beschränkt in den Handel gegeben werden.
aktuelles Beispiel: Die #41 der Zeitschrift Dummy kam zunächst nicht in den Handel
für viele Medien und auch den betroffenen Verleger unverständlich
Nun hat ein solcher Fall viel Echo in der Öffentlichkeit gefunden. Die Ausgabe Nr. 41 des “Gesellschaftsmagazins” Dummy wurde aufgrund der Prüfung zunächst nicht an den Handel ausgeliefert. Hintergrund waren Fotos und Grafiken, auf denen männliche Geschlechtsteile zu sehen waren oder Abbildungen von Tätowierungen russischer Gefängnisinsassen, die Frauen in stark sexualisierten Posen zeigen. Der Vorgang wurde in der Berichterstattung zahlreicher Medien (u.a. SZ, spiegel.de, Berliner Zeitung) und Dienste kritisch aufgegriffen. Der Tenor der Kommentare teilt die Einschätzung des Dummy-Verlegers Oliver Gehrs, der den Vorgang als Zensur begreift und nicht versteht, warum sein [pvd: nach gesundem Menschenverstand über jeden Pornografieverdacht erhabenes] Magazin nicht rechtskonform sein soll.
wichtigster Kritikpunkt: intransparentes Verfahren
Münchener Anwälte empfehlen => Vertriebsdienstleister ordnet an
Verleger&Medien: sehen Anwaltskanzlei als “ominöse Institution”
Vor allem zeigt sich der Verleger über den intransparenten Prozess verärgert. Der Nationalvertrieb des Titels hatte die Grossisten darauf hingewiesen, dass Dummy #41 “auf keinen Fall an den Handel ausgeliefert werden darf.” Hintergrund war die Einschätzung einer Anwaltskanzlei. Der Verleger hätte sich hier eine moderatere Formulierung gewünscht, denn ein tatsächliches Verbot des freien Vertriebs habe ja nicht vorgelegen. Oliver Gehrs: “aus einer Empfehlung hat der Vertrieb ein Gesetz gemacht.” Sein Dienstleister habe sich als Handlanger einer “ominösen Institution” verwenden lassen. Damit meint er die Münchner Anwaltskanzlei Auer Witte Thiel, die auch in der Medienberichterstattung zum Thema mit viel Skepsis erwähnt wird. Diese Kanzlei prüft augenscheinlich im Auftrag der Grossisten die Vertriebsfähigkeit von Presse-Produkten. Der Verleger fragt sich, nach welchen Kriterien sein Blatt untersucht wurde und äußerte pv digest gegenüber mehrfach den Verdacht, hier solle sein unangepasstes Magazin gezielt behindert werden.
Frage: wer entscheidet? nach welchen Kriterien?
Frage ist für alle Verleger relevant
Für alle Verleger relevant ist die Frage: wer entscheidet, welche Presse-Produkte der Kanzlei zur Prüfung vorgelegt werden? Denn es ist praktisch ausgeschlossen, dass die Juristen alle täglich erscheinenden Presse-Erzeugnisse prüfen. Welche Schritte sind im Fall einer kritischen Bewertung durch die Juristen vorgesehen? Ein Verbot eines Presse-Erzeugnis kann nur durch Behörden ausgesprochen werden, die aber erst nach dem In-Verkehr-Bringen tätig werden. Wie also kann ein Verlag reagieren, wenn er sein Produkt für unbeschränkt vertriebsfähig hält? Auf diese Fragen erhielt pv digest weder vom Bundesverband Presse-Grosso noch von der Münchener Anwaltskanzlei Antworten (auch Verleger Gehrs beklagt, keine Antworten von der Kanzlei zu erhalten).
Grosso-Verband und Anwaltskanzlei geben keine Auskunft
pvd-Recherchen: Kanzlei prüft im Auftrag von Grossisten
geprüft wird eine Liste mit Zeitschriften
unklar, welche Titel und wer die Liste zusammenstellt
Nach Rücksprache mit mehreren Grossisten stellt sich uns die Situation so dar, dass die Kanzlei regelmäßig nur eine bestimmte Liste von Zeitschriften prüft. Darauf finden sich neben Erzeugnissen des Sex- und Militaria-Segments wahrscheinlich auch Kunstzeitschriften, bei denen nach der Erfahrung eines langjährigen Grosso-Unternehmers ebenfalls mehrfach schon ein Pornografieverdacht bestanden habe. Es war uns allerdings unmöglich, in Erfahrung zu bringen, um welche Titel es sich konkret handelt, und wer diese Liste zusammenstellt. Im Unterschied zur Prüfung der Jugendschutzpassung von CDs und DVDs auf Presseprodukten (“DT-Control”), die ebenfalls durch die Kanzlei Auer Witte Thiel im Auftrag der Grossisten erfolgt, ist die Prüfung von Print-Erzeugnissen kein zentrales Verfahren. Stattdessen haben einzelne (alle?) Grossisten eine eigenständige Vertragsbeziehung zu den Anwälten. Insofern ist wahrscheinlich davon auszugehen, dass Dummy #41 auch ohne den Hinweis des Nationalvertriebs häufig nicht ausgeliefert worden wäre, da die Grossisten von der Kanzlei direkt über deren Einschätzungen informiert werden.
Der Verlag hat schließlich verspätet eine um die beanstandeten Seiten manuell gekürzte Ausgabe in den Handel gebracht, 4. Die Nachfrage soll groß gewesen sein.
[zentrales Prüfverfahren sinnvoll und vermutlich alternativlos
aber trotzdem problematisch: geprüfte Titel sind gegenüber nicht geprüften im Nachteil
Intransparenz lädt zu Zensur-Spekulationen ein
Es muss offen gelegt werden, welche Titel geprüft werden und wer das veranlasst]
pvd meint : im Normalfall verhindert das Prüfverfahren die Verbreitung von Blut-, Sex und Nazipostillen. Es kann keinem Grossisten zugemutet werden, sich über alle seine Presse-Erzeugnisse eine eigene Meinung zu bilden. Insofern ist ein zentrales Prüf-Verfahren sinnvoll. Andererseits ist die Empörung des Verlegers verständlich. Auch wenn Juristen einzelne Motive bedenklich finden: er muss eine Chance bekommen (auf eigenes Risiko) den Titel als durch die Meinungs- und Kunst-Freiheit gedeckt dennoch in den Handel zu bringen. Und es fehlt an Transparenz. Zwar hat im Fall von Dummy wahrscheinlich nur ein Rädchen ins andere gegriffen. Für den betroffenen Verleger bietet das Resultat in Verbindung mit fehlenden Informationen über den Prüfprozess aber viel Raum für den Eindruck, hier werde gezielt eine unkonventionelle und politisch nicht dem Mainstream verpflichtete Zeitschrift benachteiligt.
Genau solchen Presseprodukten den freien Marktzugang zu gewähren, ist aber die einzi-ge Legitimation des deutschen Presse-Vertriebs-Systems. Entsprechenden Spekulationen sollten die Grossisten im eigenen Interesse keinen Nährboden liefern. Es gibt keinen Grund, nicht allen Betroffenen nachvollziehbar zu erläutern, wie und nach welchen Regeln die Prüfung erfolgt. Denn die Selektion verdächtiger Zeitschriften ist problematisch. Ein Titel, der sich auf der ‘schwarzen Liste’ zu prüfender Objekte befindet, hat definitiv nicht die gleichen Chancen im Vertrieb wie eine Zeitschrift, die ungeprüft ins Regal wandert. Zwar mag die Vorauswahl notwendig sein, da es nicht möglich ist, alle Zeitschriften einer Vorprüfung zu unterziehen. Aber mindestens muss dann offengelegt werden, welche Titel nach welchen Kriterien und in wessen Regie auf dieser Liste stehen.